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Martin Oswald

Medienwandel: 12 Sünden im digitalen Zeitalter



Sünde 1: Gratiskultur

“Was nichts kostet, ist nichts wert”, pflegte Oma zu sagen.

Verleger sind sich heute weitgehend einig; teuer produzierte Inhalte kostenlose ins Netz zu stellen, war einer der grössten Fehler zu Beginn der Internet-Ära. Mit dieser Haltung wurde nicht nur ein neues Geschäftsmodell brachliegen gelassen, schlimmer noch; es wurde eine Gratiskultur erzeugt, aus deren Fängen man sich heute kaum mehr zu lösen weiss. Diese Gratiskultur schlug sich auch im Selbstverständnis einer jeden Redaktion nieder; Online ist (vermeintlich) weniger wert als das traditionelle Kerngeschäft — Print, Radio, TV. Das spüren die Journalistinnen und Journalisten, aber auch die Mediennutzer, die statt Premium-Qualität oft Zweitverwertung im Web vorgesetzt bekommen.


Man sagt, Journalismus spiele eine elementare Rolle für die Bürger einer Demokratie. Aber werden genügend Bürger bereit sein, für Recherchen Geld zu bezahlen? Im Marketing sagt man: “Price is only ever an issue in the absence of quality”. Der Preis ist kein Thema für den Kunden, sofern der Wert stimmt. Daran sollte sich auch der Journalismus messen. Wenn journalistische Arbeit einen Wert schafft, dann hat diese auch einen Preis. Mit Werbung allein ist sie auf Dauer nicht finanzierbar.


Sünde 2: Macht mit Wissen gleichsetzen

Die Geschäftsleitung will, dass wir die Farben in der App anpassen. Das Rot gefällt ihnen nicht.

Die Geschäftsleitung ist verantwortlich für die Strategie. Daraus leiten deren Mitglieder oftmals ab, dass sie alle Entscheidungen selber treffen müssen. Dieser Reflex hat einen Makel: Macht und Wissen kommen nicht automatisch Hand in Hand.


Ob rot oder grün die bessere Farbe für einen Button auf der Webseite oder App ist, das muss in der Kompetenz der Designer liegen. Schliesslich sind sie die Experten für diese Fragestellung und werden dafür bezahlt. Sie setzen sich mit der Frage auseinander, wie Farben auf die User wirken und welche zu Interaktion einladen. Zudem testen sie ihre Annahmen direkt mit Nutzern und passen ihre Entwürfe durch das Feedback an. Bei allem Respekt; des Finanzchefs Vorliebe für erdige Farbtöne sollten für die Produktgestaltung keine Rolle spielen.


Entscheidungen müssen in einem Unternehmen dort angesiedelt werden, wo die Fachkompetenz am grössten ist. Das Management hingegen hat die Aufgabe, Ziele vorzugeben und dann Verantwortung (inkl. Vertrauen) an die Experten-Teams abzugeben, damit diese die optimalen Lösungen entwickeln, um die vorgegebenen Ziele zu erreichen. Diese Haltung entspricht nicht den traditionellen Mustern. Aber die junge Generation von Journalisten, Produktentwicklern und Marketingfachleuten will Freiheiten, Kompetenzen und Handlungsspielräume. Zurecht.


Sünde 3: Sparen ohne zu investieren

"Kosten senken macht alle munter."

Kurzfristig mag diese Aussage stimmen. Langfristig führt sie ins Verderben. Den klassischen Verlagen brechen zwei grundlegende Einnahmequellen weg: Die Abonnenten und die Werbekunden. Erstere, weil sich die Mediennutzung je länger je stärker in den digitalen Raum verschiebt, wo nach wie vor kein oder deutlich weniger Geld mit Journalimus verdient wird. Zweitere, weil Werbung bei Facebook und Google effektiver ist, um Zielgruppen präzise und günstig zu erreichen. Die Verlagsgewinne im Kerngeschäft Journalismus schrumpfen darum bedrohlich schnell. Verleger lassen sich mit den Worten zitieren: “Wenn das so weitergeht, ist hier in zwei bis drei Jahren Lichterlöschen.”


Die vermeintlich richtige Konsequenz ist zu sparen. Verlage legen ihr Geschäft zusammen, Redaktionen werden zusammengestrichen, Titel verschwinden vom Markt, Supportbereiche werden bis zum Burn-Out verkleinert. Was dabei gerne vergessen wird; Sparen verlangsamt einzig das Sterben. Wer aber eine Wette auf die Zukunft des Journalismus eingehen will, muss gezielt in neue Bereiche investieren. Das kann eine Videoabteilung, ein Rechercheteam, ein neues Produkt-Segment (Podcast, Newsletter, Konferenzen,…) oder eine Offensive im Bereich Data & Technology sein. Lieber ein schlechter Plan, als gar keiner. Entscheidend ist; wer neue Geldquellen erschliessen will, muss neue Wege gehen. Und eine Expeditionsausrüstung hat ihren Preis.


Sünde 4: Planen statt machen

Try and learn

Planung ist wichtig. Es ist die Phase eines jeden neuen Vorhabens, in der Experten ihre Erfahrung auf den Tisch legen, debattieren und mögliche Lösungen entwickeln. Allzu gerne werden dabei Monate, manchmal sogar Jahre investiert, bevor es an die Umsetzung geht. Kommt das geschaffene Angebot dann nicht wie erhofft bei den Kunden an, hat man viel Zeit und Geld verbrannt.


Der agile Ansatz ist wesentlich pragmatischer und zielstrebiger. In Kurz: Eine Hypothese aufstellen, einen Prototypen entwicklen, diesen möglichst rasch am Markt testen, Feedback bekommen, daraus lernen und so das Produkt weiterentwickeln. Das ist günstiger und schneller.


Ein Beispiel aus der Praxis (Dieser Dialog hat genau so stattgefunden):

“Wie wärs, wenn wir den neuen Studenten am ersten Uni-Tag Hilfestellungen, Tipps und Vergünstigungen via WhatsApp anbieten?” - “Ach das ist doch viel zu aufwändig. Das werden sie bestimmt nicht nutzen.” Minutenlang wurden persönliche Meinungen und Bedenken vorgetragen.


Keiner am Tisch konnte seine Meinung mit Zahlen und konkreten Erfahrungswerten untermauern. Keiner am Tisch wusste, ob WhatsApp für Studenten funktioniert. Ausser man probiert es.


Darum: Weniger planen, schneller machen. Die Antwort liefert nicht der zwanzigste Workshop, sondern der Markt, das heisst; die Kunden.


Sünde 5: Produzieren ohne zu verkaufen

Was ist ein guter Verkäufer? Einer, der den Papst davon überzeugt, sich ein Doppelbett zu kaufen.

Gute Journalisten sind neugierig. Sie wollen Dinge verstehen, hinterfragen das Bestehende, versuchen durch Recherche der Wahrheit so nahe wie möglich zu kommen. Sie können schreiben, filmen, erzählen. Wäre ihr grösstes Talent, Kühlschränke an den Mann und die Frau zu bringen, wären sie vermutlich Verkäufer geworden.


Verkaufen ist aber zur unverzichtbaren Disziplin im Journalismus geworden. News und Geschichten werden immer seltener aktiv gesucht. Inhalte müssen dorthin gebracht werden, wo die User sind. Push statt Pull. So ist der Smartphone-Sperrbildschirm längst zur umkämpften Zone geworden, wo Pushmeldungen um die Aufmerksamkeit potentieller Leser buhlen. Damit hat sich auch der Job des Journalisten verändert: Gefragt sind Titel und Bilder, welche bei den Rezipieten sofort die Aufmerksamkeit wecken und Interesse auslösen. Gefragt sind Pushnachrichten und Postings in Sozialen Netzwerken. Gefragt sind Communities, welche die Geschichten teilen und so weiterverbreiten. Gefragt sind immer häufiger bezahlte Werbung in Sozialen Medien oder bei Google. Gefragt ist eine ganze Menge, was nicht zum erlernten journalistischen Handwerk gehört, auf dem Weg zum Leser, Zuschauer oder Zuhörer aber erfolgsentscheidend ist.

Gesucht: “Inhaltsverkäufer/in 100%”.


Sünde 6: Egozentriert statt nutzerzentriert

Niemand kennt unser Business besser als wir selbst.

Diese Aussage mag stimmen, aber was interessiert das die Kunden. Sie allein entscheiden, ob ein Medium die richtigen Angebote hat und ob sie bereit sind, Geld dafür zu bezahlen. Die traditionelle Sichtweise aus dem Unternehmen heraus birgt stets das Risiko, an den Bedürfnissen der Menschen vorbei zu handeln.


Was nützen einem Hotelier 30 Jahre Branchenerfahrung, wenn seine Kunden ihre Übernachtungen plötzlich bei Airbnb buchen? Was nützt es dem traditionsreichen Fotohersteller, dass er die Produktion von Systemkameras besser versteht, als die Technikkonzerne im Silicon Valley, wenn seine Kunden lieber mit einem Smartphone fotografieren?


Erfahrung wird dann zur Waffe, wenn sie dazu eingesetzt wird, Produkte laufend den sich verändernden Kundenbedürfnissen anzupassen. In der agilen und nutzerzentrieren Produktentwicklung spielt der Kunde die entscheidende Rolle. Neue Ideen werden darum so rasch wie möglich mit Nutzergruppen getestet. Schliesslich muss der Wurm dem Fisch schmecken, nicht dem Angler.


Sünde 7: Alleingang statt Kooperation

Do what you can do best — outsource the rest

Grosse Unternehmen haben vielfach das Selbstbewusstsein eingeimpft, alle vom Kunden gefragten Dienstleistungen selber erbringen zu können. Doch die Digitalisierung hat dazu geführt, dass Kunden mit nur einem einzigen Klick bei der Konkurrenz sind und andere, bessere, günstigere Angebote finden. Doppelt wichtig darum, sich auf das Kerngeschäft zu fokussieren. Was können wir besser, als alle anderen?


Es gibt wenig gute Gründe, als Medienunternehmen auch noch alle Infrastuktur-Probleme selber zu lösen. So manches Startup hat bitter bereut, teure Programmierer an die Entwicklung eines eigenen Content-Management-Systems zu setzen, statt eine fertige Drittlösung zu kaufen und sofort mit dem journalistischen Kerngeschäft anzufangen.


Neben dem Outsourcing werden auch Kooperationen immer wichtiger. Wenn zwei Unternehmen das gleiche Problem haben, kommt man zusammen schneller und günstiger zur Lösung — und kann dabei erst noch gegenseitig von den gemachten Erfahrungen und Daten profitieren. Geben und nehmen ist die Devise. Um alles alleine schaffen zu können, ist das Marktumfeld zu rau.


Sünde 8: Alles wollen

Fokus bedeutet Verzicht. Weniger ist mehr.

Grosse Reportagen, ein neues Magazin, Newsletter, Audio-Podcasts, ein Chatbot, eine Kochshow, eine Reisesendung, Instagram, Snapchat und eine VR-Serie. Die Möglichkeiten auf dem digitalen Spielplatz sind unbegrenzt. Und da am Horizont immer neue Services und Plattformen dazu kommen, welche locken, mit journalistischen Inhalten bespielt zu werden, wird die To-Do-List auf der Redaktion immer länger. Notabene bei immer weniger Personal. Das geht auf Dauer nicht auf.


Wer also Neues ausprobieren will — und das ist absolut richtig und wichtig — muss gleichzeitig bereit sein, alte Zöpfe dort abzuschneiden, wo sie nicht für den Unternehmenserfolg entscheidend sind.


Die Losung “Weniger ist mehr” klingt verbraucht, und kommt dennoch nicht aus der Mode. Weniger bedeutet Fokus. Fokus auf das Allerwichtigste. Fokus heisst, volle Konzentration, Herzblut und Zeit für das Wesentliche. Für die Strategie-Diskussion wie auch für den redaktionellen Alltag empfielt sich die Frage: “Was lassen wir weg?”


Sünde 9: Die interne Kommunikation vergessen

Kommunikation ist unser Geschäft, das haben wir im Griff

Da Medien von Natur aus Informationen verbreiten, unterliegen sie der trügerischen Annahme, sie hätten auch im eigenen Haus die Kommunikation automatisch im Griff. Doch gerade in Medienhäusern zeigt sich immer wieder, wie sträflich der adäquate Informationsfluss nach innen vernachlässigt wird. Dass Mitarbeiter über die grossen Entscheidungen vor allen anderen externen Stakeholdern informiert werden wollen, ist klar. Genauso wertvoll ist es aber, Teams in die strategischen Fragestellungen miteinzubeziehen, sie proaktiv über Probleme zu unterrichten und um ihre Mithilfe zu bitten. Mündige, gut informierte Mitarbeiter leisten mehr und können durch ihr Handeln gezielt zum Erfolg beitragen. Motivation fängt beim persönlichen Gespräch an, beim Vertrauen, dem Übertragen von Verantwortung und nachweislich nicht beim Lohn.


Sünde 10: Hierarchie statt Empowerment

Mein Chef hat gesagt…

Manager mögen Organigramme, weil darin klar wird, wer wofür zuständig ist, und wer wem die Aufträge gibt. Aber diese hierarchischen Strukturen kommen durch die Digitalisierung ans Ende ihres Lebenszyklus. Es entstehen neue Organisationsformen, mitunter revolutionäre wie Holacracy. Ein System, welches auf ein hohes Mass an Selbstorganisation der Mitarbeiter und Teams setzt.


So weit braucht man als Medienhaus gar nicht zu gehen. Als erster Schritt empfiehlt es sich, dedizierte Teams für spezifische Produkte/Aufgaben aufzubauen. Und zwar Teams, welche Produkte von A-Z verantworten; von der Entwicklung über die Distribution bis zum Support. Konkret: Bilden Sie ein Team aus Designer, Programmierer, Journalist, Datenspezialist und Marketing/Vertrieb und geben sie ihnen eine klare Mission. Solche Teams identifizieren sich deutlich stärker mit ihrem Produkt und den Zielgruppen.


Agile Organisationskulturen sind geprägt von Transparenz, Dialog, einer Haltung des Vertrauens, sowie engmaschigen Feedbackmechanismen. Kein System, welches von heute auf morgen implementiert ist. Aber eine Reise, die sich lohnt — nicht nur für Technologie-Abteilungen, sondern auch für Redaktionen, ja gar ganze Medienunternehmen.


Sünde 11: Inspiration ohne Regelwerk

Talk but no walk

Vorträge halten, Reden schwingen, Botschaften verkünden. Alles wichtig und richtig. Nur, damit allein ist es nicht getan. Um eine neue Strategie umzusetzen reichen Worte allein nicht. Zwar findet im Kopf in kleinen Schritten ein Umdenken statt, aber nur wer die Notwendigkeit für das Neue versteht, handelt noch lange nicht in ihrem Sinn.


Es braucht konkrete Massnahmen, welche die Arbeitsweise im Alltag verändert. Mitunter müssen die konkreten Arbeitsabläufe vorgegeben und kontrolliert werden. Kein Medienunternehmen hat die Zeit zu warten, bis alle Mitarbeiter ausreichend Lust verspüren, die Strategie mitzutragen und entsprechend zu handeln.


So hilft bei Social Media zum Beispiel eine verbindliche Content-Planung, welche vorgibt, wie oft auf welchem Kanal Inhalte publiziert werden. Ein solches Mengengerüst schafft einerseits Planungssicherheit für die zuständige Redaktion (Was machen wir am Sonntag bei Instagram, wenn das Wetter verrückt spielt?) und andererseits Präsenz bei den Leserinnen und Nutzern.


Sünde 12: Kreativität voraussetzen

Macht mal was Kreatives. Ihr wisst schon, so was Virales.

Schön, wenn es so einfach wäre. Aber Kreativität, welche sich im Medien-Dschungel von all dem Lärm abhebt, ist nichts, was mal eben kurz bei der Redaktionssitzung geplant und husch-husch umgesetzt werden kann. (Ein Hoch auf die Ausnahmen). Kreativität braucht Raum, eine etwas längere Leine, eine Kultur, in der Risiko gefeiert statt abgestraft wird. Und es braucht Typen (männlich wie weiblich zu verstehen). Typen, die mit ihrer Meinung anecken und auch mal gegen den Mainstream schwimmen. Kreativität ist keine Eigenschaft, die wir alle mit der Muttermilch mitbekommen haben. Wer Kreativität im Alltag will, muss darum beim Recruiting beginnen.


Jedes erfolgreiche Unternehmen hat Mitarbeiter, die immer wieder extra Meilen gehen, die mit grosser Leidenschaft für Exzellenz kämpfen, die ungefragt neue Ideen einbringen und vor dem Einschlafen noch einem unzufriedenen Kunden auf Twitter antworten. Diese Mitarbeiter sind schwer zu finden und nur zu halten, wenn der Handlungsspielraum, die Gestaltungsmöglichkeiten und die menschliche Wertschätzung stimmt.

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