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Martin Oswald

Wie baut man ein Team für Innovation im Journalismus auf? Erfahrungen aus 18 Monaten Labor

Um zukunftsfähig zu bleiben, brauchen Unternehmen einen ständigen Strom an neuen Ideen. Bei CH Media, einem der grössten Schweizer Verlagshäuser, ist seit Anfang 2021 mit «Epsilon» ein Team für die redaktionelle Produktentwicklung am Werk.

Epsilon-Team: Jolanda Riedener, Alexandra Stark, Martin Oswald und Sheila Eggmann, Bild: Ralph Ribi

Hallo, grüne Wiese

Im Journalismus gibt es nur selten die Chance, etwas Neuartiges mitzugestalten. Im Regelfall geht es darum, das bestehende Angebot zu optimieren, an kleinen Stellschrauben zu drehen und einzelne Prozentpunkte dazuzugewinnen. Im Winter 2020 standen wir bei CH Media kurz vor einem Relaunch der digitalen Produkte und der Einführung einer flächendeckenden Paywall bei all unseren Newsportalen. Fortan sollte es darum gehen, unser digitales Geschäftsmodell mit doppelter Geschwindigkeit zu entwickeln und mit einem Freemium-Modell stetig Abonnentinnen und Abonnenten dazuzugewinnen.


Dazu bedarf es einer sprudelnden Quelle für neue Ideen, Erzählformate und Produkte für spezifische Zielgruppen sowie ein Selbstverständnis für digitales und multimediales Arbeiten in den Redaktionen. Genau dafür gründeten wir ein Innovationsteam, quasi ein Inkubator für Neues und eine Ressource, damit Ideen auch direkt getestet werden können.


Unser Auftrag:

  • Wir produzieren Evergreen-Content mit langer Haltbarkeit und für spezifische Zielgruppen.

  • Wir entwickeln und testen neue Erzählformate und Tools.

  • Wir unterstützen die datenbasierte und nutzerzentrierte Arbeitsweise der Redaktion durch Coaching und Weiterbildung.

  • Wir bauen Kompetenz im Bereich Roboterjournalismus und Automation auf.

Schnell stellte sich die Frage nach dem Namen für dieses Baby. «Die Werkstatt»? Klingt nach Bastelei. «Inno-Team»? Erinnert an eine TV-Serie. Wir haben uns für Epsilon entschieden. Das E steht für Evergreen, Experimente und Erkenntnisse. Am Wochenende wurde ein Logo gebastelt und schon hatte unser Startup ein erstes Gesicht:


Recruiting for the unknown

Neue Stellen besetzen dürfen – ein Privileg in wirtschaftlich schwierigen Zeiten. Aber wer würde seinen Job aufgeben für eine unklare Mission, welche vorerst auch nur für ein Jahr finanziert war? Meine Zweifel waren rasch verflogen, als wenige Minuten nach meiner internen Videobotschaft die ersten Bewerbungen eintrafen.

«Wenn wir im Journalismus schon mal was Neues mitgestalten können, will ich natürlich dabei sein.»

Ein Kollege verzichtete sogar auf seine Kaderposition, um bei Epsilon dabei sein zu können.


Entscheidend für meine Rekrutierung waren zwei Faktoren:

  1. Die Lust am Neuen, Offenheit und ein hohes Mass an Kreativität und Gestaltungswille

  2. Team-Geist, keine Allüren, die Bereitschaft sich auf andere einzulassen und sich gegenseitig besser zu machen

Und so sassen wir im Dezember 2020, wenige Tage vor dem Start der Mission, zum ersten Mal zusammen und stimmten uns auf die gemeinsame Reise ein. Jede und jeder mit Stärken und Schwächen, die es als Team auszugleichen galt.


Strategie, Organisation und Kultur entwickeln

Wir stellten uns nicht nur die Frage, wie wir als Innovations-Team optimal zusammenarbeiten, sondern auch, wie wir den Status Quo immer wieder hinterfragen und alternative Wege eröffnen können.


Das begann mit der Art, wie wir im Team kommunizieren. So hatten wir entschieden, gänzlich auf E-Mail zu verzichten und ausschliesslich über Teams zu kommunizieren. Das hatte einen überraschend grossen Impact, entschärfte es doch auf einen Schlag den Dauerstress, auf allen Kanälen gleichzeitig präsent und auf Empfang sein zu müssen.


Eine weitere Massnahme, die im Journalismus leider noch kein Standard ist; Feedback. Jeder Artikel, jeder Social-Media-Post, jede Formatidee geht durch einen Team-Review. Auch nahmen wir uns Zeit, um gemeinsame Werte zu definieren, nach denen wir handeln wollten. Ich bin zutiefst überzeugt, dass starke Teams immer wieder Zeit zur Reflexion einplanen sollten und sich nicht nur über das Was austauschen, sondern auch das Wie gemeinsam gestalten.


Kleine, essbare Brötchen backen

Innovations-Einheiten gibt es heute in fast jedem Unternehmen. Einige sind damit beschäftigt, Faxgeräte aus den Büros zu entfernen, andere wandeln mit VR-Brillen vor den Augen durchs Office, wieder andere antizipieren die ferne Zukunft. In unserem Biotop können wir nur Erfolg haben, wenn wir Dinge entwickeln und testen, die für unsere 400 Journalistinnen und Journalisten anwendbar sind. Also haben wir im ersten Jahr viele kleine Brötchen gebacken. Kleine, aber ess- und verdaubare Brötchen. Und dieser Weg sollte sich schon bald als der für uns Richtige erweisen.


Ein Beispiel: Das Format «einfach erklärt» baut darauf, komplexe Themen in einfachen Worten und gut strukturiert zu beschreiben. Der erste Gehversuch «Was passiert beim Impfen und wie funktioniert mRNA?» wurde zum meistgelesenen Artikel des Jahres 2021. Das war gewiss nicht revolutionär, aber es stellte die Bedürfnisse der Leserinnen und Leser ins Zentrum und war für alle Kolleginnen und Kollegen in den Redaktionen sofort adaptier- und anwendbar. Wir stellten dazu entsprechende CMS-Vorlagen und eine E-Learning-Schulung bereit.


Wir tun Gutes und sprechen darüber

Als kleines Team in der Grossorganisation bestand die Gefahr, dass Epsilon weder bekannt noch anerkannt, geschweige denn wirksam werden würde. Also mussten wir bei jeder sich bietenden Gelegenheiten erzählen, wer wir sind und was wir tun. Bei internen Veranstaltungen, bei Ressort-Sitzungen, in Newslettern. Hier zeigte es sich, wie schwierig es ist, die Aufmerksamkeit von Kolleginnen und Kollegen zu erlangen, die in ihrem stressigen und konvergenten Job ohnehin permanent mit E-Mails und Mitteilungen zugeschüttet werden. Inzwischen haben wir schon mit über hundert Kolleg:innen direkt zusammengearbeitet.


Eine Enttäuschung für uns war, als ein Redaktor einen neuen Podcast entwickeln wollte und trotz mehrmaliger Umfrage niemanden habe finden können, der ihm bei der Entwicklung hilft. Vom Team Epsilon hatte er offenbar noch nie gehört, oder aber nicht verstanden, dass wir genau für solche Projekte da sind. Learning: Man kann nie genug und proaktiv auf interne Stakeholder zugehen.


Erste Erfolge

Ein neues Team steht unter dem Druck zu beweisen, dass hier zurecht Ressourcen eingesetzt werden. Schon gleich nach der Gründung haben mich unzählige Mails erreicht, welche uns Kredit zugesprochen haben:

«Es ist so wichtig, dass es euch gibt, dass in Innovation investiert wird, dass man an die Zukunft glaubt».

Diese Signalwirkung nach innen hatte ich unterschätzt, aber sie gab dem Vorhaben kräftig Rückenwind.


Web Story: Ein neues Erzählformat aus dem Hause CH Media.

Und dennoch mussten wir den Beweis erbringen, dass unsere Ideen funktionierten. Nicht alle, aber ab und an eine Erfolgsmeldung war wichtig. Die Quittung hatten wir einige Monate nach dem Start schwarz auf weiss vor uns. Unser Ansatz, Inhalte mit langer Haltbarkeit – sogenannten Evergreen-Content – zu produzieren, funktionierte. Gar besser als erwartet. Und der Erfolg liess sich beliebig multiplizieren. Was wir in einer Region getestet hatten, funktionierte auch in den anderen Regionen. Das kreative Storytelling beim Thema Wirtschaft konnte auch bei der Kultur oder im Sport funktionieren. Und wir realisierten, dass sich unsere Leser:innen nicht nur für harte Fakten nach streng journalistischen Relevanz-Kriterien interessierten, sondern dass es die Fragen nah am Leben und dem Alltag waren, die besonders gut funktionierten.


Was tun mit Kindern an einem regnerischen Sonntag? Wie beginne ich mit Joggen? Wie finde ich mein Traumhaus? Welches sind die schönsten Feuerstellen, Wanderrouten, Badeplätze? Und wer hilft mir bei der Steuererklärung? Darüber hinaus schufen wir einen Textroboter für Fussballberichte und Baugesuche, erstellten aufwändige Datengeschichten und digitalisierten Archivinhalte.


Nützlicher Journalismus, ausgerichtet auf die Bedürfnisse der Leserinnen und Leser, attraktiv aufbereitet und clever distribuiert – das war unsere Lösung. Dabei ging es uns nicht nur um die konkreten Inhalte, sondern auch um den Workflow von der Ideenfindung über die userzentrierte Inhaltsgestaltung bis zur Datenanalyse. Diesen Workflow in neun Schritten haben wir in einem Storytelling-Manual festgehalten und veröffentlicht. Zum Download. Das Echo aus der Medienbranche war sehr ermutigend. Inzwischen wurde dieser Leitfaden sogar auf Englisch übersetzt.

Wissen weitergeben

Ein Innovationsteam dient keinem Selbstzweck, sondern ist immer in ein Ökosystem eingebettet, dem es dienen muss. Also beschäftigen wir uns immer wieder mit der Frage, wie wir für die Organisation wirksam sein können. Eine Antwort darauf: Ausbildung und Coaching. Zum einen schufen wir mit der «Werkstatt Storytelling» einen zweitägigen Kurs, bei dem wir die erprobte Arbeitsweise vermittelten. Zum anderen arbeiten wir wochenweise mit Ressorts vor Ort zusammen und können so im Tagesgeschäft Impulse geben, auf Augenhöhe mitarbeiten und die Teams unterstützen. Beide Formate überprüfen wir jeweils mit einer digitalen Umfrage, welche uns bislang zeigt, dass diese Angebote geschätzt werden. Darüber hinaus sind wir jederzeit da, den Kolleginnen und Kollegen bei der Planung und Umsetzung ihrer Geschichten zu helfen.

Welche Herausforderungen haben die Menschen und wie können wir Medien helfen?

Mehr Fragen als Antworten

Seit Beginn habe ich mich mit zahlreichen Innovations-Teams anderer Medienhäuser ausgetauscht. Rasch zeigte sich, dass wir viel voneinander profitieren können und mit ganz ähnlichen Herausforderungen konfrontiert sind. Die vielleicht zentralste ist der Auftrag und das Commitment der Geschäftsleitung. Das Unternehmen muss Veränderung wollen und es muss diese Innovationsarbeit schützen. Ein Team für Innovation ist keine stille Ressource, die bei redaktionellen Engpässen mal eben verschoben wird. Ein Team für Innovation ist nicht geeignet für Aufträge, bei denen das Resultat schon von vornherein definiert wird. Was ein Team für Innovation hingegen braucht, um erfolgreich arbeiten zu können: Strategische Ziele, ein gewisses Mass an Gestaltungsfreiraum und Vertrauen. Um möglichst grosse Transparenz zu schaffen, haben wir gute Erfahrungen mit einer Quartalsplanung (OKR) gemacht und ich habe meine Vorgesetzten wöchentlich in einem 1:1 über aktuelle Entwicklungen informiert.


Man darf sich dennoch keiner Illusion hingeben. Innovationslabore haben eine kleinere Halbwertszeit als andere Unternehmenseinheiten. Immer wieder wird die Frage nach der Ausrichtung auftauchen, nach dem Fokus, nach der Wirksamkeit. Und so gilt die dem Team einverleibte Haltung, den Status Quo zu hinterfragen, natürlich stets auch für die eigene Arbeit. Sind wir auf dem richtigen Weg? Helfen wir dem Unternehmen, weiterzukommen? Ausgang offen.



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